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Was jetzt, Jesus

LSBTIQ und YMCA – deutlich mehr als ein herausforderndes Thema. Michael Götz nimmt uns mit auf die Weltratstagung und was ihn noch immer nachhaltig davon bewegt.

 

Von Beginn der YMCA-Bewegung 1844 an gab es heiße Eisen in Fragen des Zusammenlebens, die die Gemüter erhitzten. Im 19. Jahrhundert waren es z.B. die Sklavenfrage oder der Umgang mit der Droge Alkohol. Auf der Weltratstagung vom 3. – 8.7.2022 in Aarhus in Dänemark waren es der Krieg von Russland gegen die Ukraine, die Vision des YMCA weltweit, der Klimawandel, die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und vieles mehr. Ein Thema, welches gar nicht explizit auf der Agenda stand, wurde aber immer wieder durch die Regenbogen-Farben zum Gegenstand von Gesprächen. Einige, oft jüngere Teilnehmerinnen und Teilnehmer, machten durch Masken, Schals und Sticker in Regenbogenfarben auf die Pride-Bewegung und einen selbstbewussten Umgang mit der eigenen sexuellen Identität aufmerksam.LSBTIQ Weltratstagung

Und schnell wurde mir in Gesprächen auf der Weltratstagung deutlich, dass es bei dem Thema nicht um ein Thema geht, sondern um Menschen. Wir tun manchmal so, als wären dies abstrakte Gedanken, über die wir pädagogisch oder theologisch diskutieren und Lösungen finden können. Aber so ist es nicht. Ist jemand selbst schwul oder hat eine lesbische Tochter oder einen Freund, der Transgender ist, der redet anders über »das Thema«, weil es eben kein Thema ist, sondern mit der Sexualität zutiefst unser Menschsein und unsere Beziehungen berührt.

 

Gleich bei einem Ausflug am ersten Tag habe ich einen CVJM-Sekretär aus dem YMCA England kennengelernt. Ein kreativer und engagierter junger Christ, der seine persönliche Beziehung zu Jesus intensiv lebt und mit dem man wunderbar diskutieren kann. Wir haben uns ausgetauscht über die missionarische Dimension, die Wurzeln des YMCA als Gebets- und Bibelbewegung und wie das Evangelium als gute Nachricht alle Menschen erreichen kann. In den weiteren Gesprächen erzählte er, dass er schwul ist und leider in einigen Gemeinden in London deswegen Ablehnung erfahren hat. Er musste suchen, bis er eine christliche Gemeinschaft fand, die ihn offen aufnahm. Auch im Blick auf den YMCA ist er sich manchmal unsicher, ob er gerade bei den Geschwistern, denen die missionarische Dimension so wichtig ist, mit seiner sexuellen Identität akzeptiert ist.

 

Noch am gleichen Tag bin ich auf einen ungarischen Delegierten getroffen, der mir im fließenden Deutsch von seinem Engagement in Roma-Communities erzählte. Überhaupt ist mir der YMCA in Ungarn schon immer sehr nahe, da sie die missionarische und diakonisch-soziale Dimension des Auftrags von Jesus auf eine vorbildliche Art und Weise verbinden. Vom ungarischen CVJM finde ich, können wir im weltweiten YMCA viel lernen. Und so kam ich im Verlauf des Gesprächs mit ihm auch auf die vielen Regenbogensymbole, die auf der Tagung nicht zu übersehen waren. Ich spürte, wie er sich zuerst etwas scheute, aber dann doch deutlich sein Unbehagen äußerte. Er ist klar gegen die Diskriminierung von LSBTIQ (Lesbisch, schwul, bi-, trans-, intersexuell, queer – Abkürzung des Familienministeriums), aber diese aufdrängende Art dies überall zu zeigen, nervt ihn. Es erinnere ihn an die Ideologien, die sie zu Zeiten des Ostblocks aufgezwungen bekommen haben. Da waren es die roten Fahnen, jetzt bekommt man Ärger, wenn man keine Regenbogenfahne aufhängt. Da haben sie als Ungarn international z.B. bei der letzten Fußball-EM heftig Druck bekommen. Und diese Ideologie – oft verbunden mit einer aggressiven Abwertung des anderen – ärgert ihn und lehnt er ab.

 

Und was soll ich sagen nach diesen beiden Gesprächen mit zwei Brüdern im Glauben? Ich kann beide verstehen, wenn ich mich in sie hineinversetze. Wie brutal muss das sein, wenn du von denen ausgegrenzt wirst, die für dich durch deinen Glauben an Jesus Christus Geschwister sind? Und das nicht wegen einer Meinung oder Handlung, die du dir ausgesucht hast, sondern weil du so bist, wie du bist? Und wie nervig muss das umgekehrt sein, ständig an den Pranger gestellt zu werden, weil man nicht jedem Trend hinterherlaufen will und die LSBTIQ-Bewegung als ideologisch aufgeladen empfindet?

 

Doch was jetzt? In solchen Situationen sehne ich mich danach, Jesus persönlich fragen zu können: Wie würdest du damit umgehen? Was empfiehlst du mir und uns als weltweite Gemeinde? Und natürlich frage ich ihn das im Gebet, doch da weiß ich um die Grenzen. In solchen emotional aufgeladenen Fragen die eigenen Gedanken und Emotionen von dem Wort Jesu zu unterscheiden, ist schier unmöglich.

 

  1. Und so ist mir der Blick in die Bibel und wie ich dort Jesus begegne, äußerst hilfreich und ich kann einige klare Handlungsmuster erkennen, die mir helfen:
    Jesus geht es zentral um die Liebe und er leidet an der Hartherzigkeit der Menschen. Nicht, dass sich Menschen lieben, ist für ihn ein Problem, sondern dort, wo sich Menschen ausgrenzen und hassen.
  2. Jesus geht häufig sehr provokativ mit gesellschaftlichen Konventionen und Traditionen um. Geradezu revolutionär hält er zu Menschen, die damals – auch aufgrund von biblischen Geboten – ausgegrenzt wurden: die blutflüssige Frau (Mk 5,25), Lepra-Kranke (Lk 17,11ff), eine Ehebrecherin (Joh 8,1ff), Ausländer (Joh 4,1ff), Zöllner (Lk 1,19ff) und viele andere. Ausgrenzung ist für Jesus keine Lösung. Wenn jemand inklusiv ist und entspannt mit Vielfalt umgeht, dann Jesus.
  3. Jesus selbst thematisiert Homosexualität nie direkt, sondern mahnt zur Treue in der Ehe und der Liebe (Mk 10,1ff). Er geht sicherlich wie damals üblich von der Ehe von Frau und Mann aus, aber dies war schon allein im Blick auf die Versorgung im Alter durch die Kinder eine lebenswichtige Notwendigkeit. Homosexualität, aber auch Kinderlosigkeit in der Ehe (Gen 16,1ff) hatten damals katastrophale soziale Auswirkungen, die es zu vermeiden galt.
  4. Jesus geht kritisch mit gefundenen Positionen in anderen sozialen und zeitgeschichtlichen Kontexten um. Mutig traut er sich Erkenntnisse aus der Vergangenheit zu hinterfragen, wenn er in der Bergpredigt mehrfach sagt: »Den Alten ist gesagt worden, ich aber sage euch …« (Mt 5,21, 27, 30, 33, 38,41). Von daher können Weisungen Gottes zu bestimmten Zeiten absolut sinnvoll gewesen sein, sind es aber ein paar Hundert Jahre später nicht mehr. Jesus fordert uns auf, dies miteinander in seinem Geist zu prüfen.
  5. Jesus fragt nach dem Ziel von Geboten: Der Mensch ist nicht um des Sabbats Willen geschaffen, sondern der Sabbat um des Menschens Willen (Mk 2,27f). Die Gebote sind da, das Leben zu schützen. Von daher frage ich mich von Jesus her äußerst schlicht, ob durch ein bestimmtes Verhalten jemand geschädigt wird. Und wen bitte schädigt es heute, wenn zwei homosexuelle Menschen in Treue zueinanderstehen?
  6. Jesus macht aus seinem Verhalten keine Ideologie oder Politik. Interessant ist, dass Jesus ohne großes Getöse einfach zeichenhaft handelt und so neue Realitäten schafft. Seine Reden sind unübertroffen kurz und pointiert. Allem zur Schau tragen steht er eher kritisch gegenüber. Für ihn steht die gelebte Liebe im Mittelpunkt. Bis ans Kreuz, wo er betet: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.« Und dieses Gebet hat auch alles lieblose und vernichtende Verhalten gegenüber Menschen im Blick, die aufgrund ihrer sexuellen Identität ausgegrenzt, verlacht, misshandelt und zeitweise sogar getötet wurden.
  7. Und hier gibt es noch eine letzte kirchengeschichtliche Anmerkung,
    auf die vor allen Dingen junge Menschen mit Recht sehr sensibel reagieren. Dass Christen durch Jahrhunderte mit höchstem moralischem Anspruch im Blick auf die Ablehnung von LSBTIQ selbst so krachend versagt haben, indem über Jahrhunderte tausendfacher Missbrauch an Kindern – vor allen Dingen Jungs – verübt, tabuisiert und vertuscht wurde. Diese lebenszerstörerische und kriminelle Doppelmoral seiner Gemeinde hat so viel Vertrauen in Jesus vernichtet, wie es nicht mal die schärfsten atheistischen Gegner hätten fertigbringen können. Kyrie eleison –Herr erbarme dich! Hier ist es Zeit Buße zu tun und umzukehren. Ein Anfang ist gemacht.

Und was heißt das für uns jetzt im CVJM, im weltweiten YMCA?
Zuallererst heißt es Jesus nachfolgen. Bei ihm gibt es keine Diskriminierung, aber auch keine Ideologisierung. Und was bin ich froh über den Satz in der Pariser Basis (Grundlage des CVJM, 1855): »Keine an sich noch so wichtigen Meinungsverschiedenheiten über Angelegenheiten, die diesem Zweck fremd sind, sollten die Eintracht geschwisterlicher Beziehungen unter den nationalen Mitgliedsverbänden des Weltbundes stören.«
Allein durch die unterschiedlichen sozialgeschichtlichen Hintergründe und geistlichen Prägungen im weltweiten YMCA gibt es auch im Umgang mit LSBTIQ unterschiedliche Betrachtungsweisen. Vieles ist da im Fluss, wie auch bei anderen ethischen Fragestellungen. Keiner sollte sich da über den anderen erheben, sondern das Wichtigste ist – um Jesu und der Menschen willen – auf der Suche nach tragfähigen Antworten zu bleiben. Denn Jesus hat von sich gesagt, dass er der Weg ist und kein Standpunkt – ein Weg zur Wahrheit, ein Weg zum Leben (Joh 14,6).

 

Zwei persönliche Schlussbemerkungen:

  1. Wer mich schon länger kennt, wundert sich vielleicht an manchen Stellen über diesen Artikel. In den 90igern glaubte ich – wie viele andere – daran, dass LSBTIQ eine Krankheit ist, die mit Hilfe von Psychologie und Seelsorge geheilt werden kann. Ich bin in dieser Zeit auch glaubhaften Menschen begegnet, die dies persönlich erlebt haben. In den 2000er habe ich dann aber schmerzhaft miterleben müssen, dass viele homosexuelle Christen durch diese Therapien depressiv oder wieder »rückfällig« wurden. Durch unzählige Diskussionen, theologisches Forschen, meine seelsorgerliche Praxis und vor allen Dingen durch die Begegnung mit Betroffenen bin ich zurzeit auf dem Stand, dass die sexuelle Identität von Gott geschenkt ist. Mit ihr gilt es – wie in allen Beziehungen – in Treue und Fürsorge miteinander umzugehen.
  2. Als deutlich über das Ziel hinaus geschossen empfinde ich jegliche Ideologisierung in Form von nicht haltbaren Aussagen, dass Geschlechter eine rein soziale Konstruktion sind oder dass man alles mal »ausprobiert« haben muss – als wären andere Menschen nur dazu da, meine Bedürfnisse zu befriedigen. Richtig verärgert bin ich da, wo Christen sich gegenseitig aufgrund unterschiedlicher Meinungen in dieser ethischen Fragestellung den Glauben absprechen oder wo in postkolonialer Manier ganzen Kulturen (z.B. Osteuropa, Afrika) gegenüber lehrmeisterlich aufgetreten wird. Zudem höre ich aus einigen Jugendcliquen oder von Jugendpsychiatern (z.B. Alexander Korte), dass sich der Druck umgekehrt hat und viele Jugendliche in der Teenagerphase und ihrer Ich-Findung komplett verunsichert werden. Dieses komplette Infrage stellen – auch durch soziale Medien – führt genauso wie das damalige Tabuisieren in eine das Leben nicht fördernde Sackgasse.

In allem Unterwegssein in dieser Frage bin ich immer wieder begeistert, wie Jesus mir Geschwister weltweit zur Seite gestellt hat, mit denen ich in aller Meinungsverschiedenheit in einem lebenslangen Lernprozess unterwegs sein darf. Jesus als der Sohn Gottes ist und bleibt für mich der inklusivste Mensch, den ich kenne. Gemeinsam mit ihm vereint unter dem Regenbogen Gottes aus der Noah-Geschichte bin ich mir seiner Weggemeinschaft sicher, auch und gerade, weil ich weiß, dass ich keineswegs mit diesem Artikel am Ziel angekommen bin.

 

Euer Michael

Michael Götz, Generalsekretär CVJM Bayern

 

P.S. Rückmeldungen auf den Artikel gerne direkt an mich persönlich: goetz@cvjm-bayern.de.